Dipl.-Biol. Sigrun Mittl – holon-dialoge.de – Fürth 2019

Ist die Aufklärung, die der Menschheit das Ideal des Humanismus, der echten Menschlichkeit, als Regenbogen an den Himmel gemalt hat, schon erfüllt und erledigt oder wartet sie noch auf uns?

Der Begriff des „Transhumanismus“ (von lateinisch trans `jenseits, über` und humanus `menschlich´), der seit ein paar Jahren der einzige Begriff ist, der zusammen mit dem Wort „Humanismus“ überhaupt noch in den Mund genommen wird, könnte uns glauben lassen, dass der Humanismus schon erreicht ist und die Entwicklung weiter gehen muss. Liest man allerdings die Definition dieses Begriffes, scheint eine alte, längst überwunden geglaubte Idee wieder aufzuerstehen: den Menschen durch technologische Verfahren zu verbessern. Das erinnert doch sehr an Frankenstein. Mir bereitet das große Sorge und ich stelle mir ernsthaft die folgende Frage: Kann der Mensch durch Technik verbessert werden oder verliert er dadurch das Ziel, ein menschlicher Mensch zu werden, aus den Augen? Ich habe den Eindruck, dass die Menschheit an einem Scheideweg steht: will sie oder lässt sie sich vielmehr arglos führen zu einem Menschsein, das der Technik unterworfen wird oder erkennt sie, dass in ihr ein höheres Ziel und Ideal angelegt ist, nach dem sie eigentlich strebt, meist ohne sich dessen bewusst zu sein. Ist es als Fortschritt zu werten, den Mensch durch den Einsatz technologischer Verfahren zu verbessern oder unterbricht dieses Vorhaben das Fortkommen des Menschen auf der Jakobsleiter, die in den Himmel führt? Ich plädiere dafür, die Ziele der Aufklärung – und mehr noch, die innere Sehnsucht des Menschen nach Sinn und Erfüllung wieder in den Blick zu nehmen.

Ken Wilber weist in seinem Buch „Halbzeit der Evolution“ [1] nach, dass der Mensch sich vom animalischen Bewusstsein zum kosmischen Bewusstsein entwickelt, dass er also nicht nur auf der Welt ist, um zu arbeiten und seine Freizeit zu genießen. Er hat etwas Größeres vor, etwas fast schon Heiliges. Wenn dies so ist, dann ist jeder einzelne Mensch an dieser Evolution natürlich beteiligt, dann ist jeder einzelne Mensch wichtig. Jedes Leiden, das den Menschen dazu bringt, humaner zu werden, empathischer zu werden, sich mit Leid und Entwicklung, mit seiner Heilung zu befassen, Liebe zu sich selbst zu entwickeln, kann dem Fortschritt dienen; Fortschritt ganz anders gedacht: nämlich als Entwicklung des Menschen hin zum menschlichen Menschen.

Erich Fromm, den meisten Menschen schon gar nicht mehr bekannt, machte sich Zeit seines Lebens große Sorgen um die Entwicklung der Menschheit und die Entmenschlichung des Menschen sowie der ganzen Gesellschaft und warb mit großer Anstrengung für einen neuen oder vielleicht erst wirklich ernsthaften Humanismus: „Der wichtigste aller humanistischen Denker des 18. und 19. Jahrhunderts war wohl Johann Wolfgang von Goethe. Wenigstens einige seiner Ideen sollen erwähnt werden. Ähnlich wie Nikolaus von Kues, Herder und Lessing findet sich auch bei ihm die Vorstellung, daß der Mensch nicht nur seine eigene Individualität, sondern die ganze Menschheit mit all ihren Möglichkeiten in sich trägt, obwohl er sie wegen der äußeren Grenzen seiner Individualität nur in ganz beschränktem Maße zu verwirklichen vermag. (Vgl. H.A.Korff, 1958, Band II, S.123.) Nach Goethe besteht das Ziel des Lebens darin, sich durch Individualität zur Universalität zu entwickeln. Für das Denken des 18. Jahrhunderts bis hin zu Goethe (…) galt, daß Universalität nicht durch Verzicht auf Individualität zu erreichen ist. Man glaubte nicht, daß alle Menschen sich gleichen und sich deshalb zusammengehörig oder eins fühlen; vielmehr glaubte man, daß der Mensch nur durch eine vollständige Entwicklung seiner eigenen Individualität zur Erfahrung seiner eigenen Humanität – und das bedeutet zur Humanität aller – kommen könne. Für die Philosophen der Aufklärung fühlt der Mensch sich mit allen gerade deshalb eins, weil er ganz er selbst geworden ist. Wird der Mensch nicht ganz er selbst und bleibt er, psychisch gesehen, ein totgeborener Mensch, wird er nie er selber sein, noch wird er fähig sein, jene Humanität zu fühlen, die er in sich trägt.“ [2]

Und Fromm weiter: „Sobald wir also geboren sind, wird uns das Leben zu einer Frage und müssen wir eine Antwort geben, die wir nicht mit unserem Verstand und unserem Gehirn, sondern in jedem Augenblick mit unserem ganzen Menschsein geben müssen. Dabei gibt es letztlich nur zwei Antworten: Wir können regredieren oder unsere Humanität entwickeln. Viele, wenn nicht gar heute die meisten Menschen versuchen, Antworten zu vermeiden und sich die Zeit mit all dem zu füllen, was wir Unterhaltung, Zerstreuung, Freizeit usw. nennen. Meiner Überzeugung nach ist diese Lösung in Wirklichkeit keine Lösung, denn die Menschen sind gelangweilt und depressiv, auch wenn sie sich dessen nicht bewußt sind.“ [2]

Fromm hat für McCarthy 1968 eine Wahlkampfrede geschrieben. Wenn wir folgenden Ausschnitt daraus lesen, mag uns Angst und Bange werden oder tiefe Trauer erfassen, da wir erkennen, dass wir möglicherweise noch keinen Schritt weiter gekommen sind, ähneln doch die Inhalte sehr den heutigen: „Wie kam es, daß wir uns in eine solche Sackgasse verrannten? Im letzten Jahrhundert hatte es den Anschein, als wäre die Maschine ein Mittel, um zu einem erfüllenderen und reicheren Leben zu kommen – ein Leben, das es dem Menschen endlich ermöglichen würde, jene Fähigkeiten und Kräfte zur Entwicklung zu bringen, die nur ihm zu eigen sind: kreatives Denken, Liebe und Kunst. Der Mensch hoffte, daß er erstmals von der Bürde befreit wäre, fast alle Energie auf die Sicherung des Lebensunterhalts verwenden zu müssen, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der er frei wäre, er selbst zu sein – ein ganz entwickelter Mensch. Doch der Mensch wurde nicht frei, er selbst zu sein, sondern von seiner neuen Fähigkeit – dem scheinbar unbegrenzten technischen Fortschritt – ganz trunken. Die Maschine beherrscht nun den Menschen, statt den Zwecken des Menschen zu dienen.“ [2]

Wo bleiben da die höchsten Errungenschaften der Menschheit, die in Goethes Faust, in Mozarts Zauberflöte oder den Gedichten Rilkes Ausdruck fanden? Sind sie vergessen? Die Dichter und Denker, die die Menschheit aufriefen, nach dem Höchsten zu streben, nur noch gut als Konterfei auf Tassen und Bettdecken? Dabei ist doch der Mensch als geistig-seelisches Wesen so viel mehr und sehnt sich nach mehr. Carl Friedrich von Weizsäcker und Gopi Krishna fanden so wunderbare Worte und Bilder für dieses Mehr:

„Der menschliche Geist ist so angelegt, dass kein Luxus und keine Schätze der Erde seine brennende Sehnsucht nach einer Erklärung der eigenen Existenz beruhigen können. Das ganze schwere Gewicht dieses unerforschlichen Mysteriums, alle Fragen, die der Intellekt stellt, alles Leiden um den qualvollen Aufstieg der Evolution, alle Schmerzen, die über Ungerechtigkeit und Leid in der Welt empfunden werden, alle Enttäuschung über zerbrochene Träume und Hoffnungen, alle Qualen über den unwiderruflichen Heimgang von Freunden und Geliebten, alle Angst vor Krankheit, Verfall und Tod vergehen wie Nebel beim Aufgang der inneren Sonne, wenn das geheime Selbst, jenseits von Denken, Zweifel, Schmerz und Sterblichkeit, erkannt wird. Einmal erschaut, erleuchtet es die Finsternis des Geistes, so wie das Aufleuchten eines starken Blitzes die Dunkelheit der Nacht aufbricht, und verwandelt den Menschen allein durch ein einziges Aufleuchten der unaussprechlichen Herrlichkeit und des Glanzes der geistigen Welt. Möge diese erhabene Erkenntnis allen zugänglich werden. Möge Erleuchtung und Frieden sich auf den Geist aller herabsenken.“ [3]

Wollen wir allen Ernstes das Streben nach diesen inneren Zielen der technischen Verbesserung des Menschen opfern?

Viele Philosophen und Wissenschaftler waren sich einig, dass das Universum mit dem Menschen etwas vor hat, nämlich die Entwicklung des Bewusstseins des Menschen voranzutreiben. Erich Fromm beschreibt das fast märchenhaft auf folgende Weise:

„Im Paradies war der Mensch noch eins mit der Natur, aber er war – wie das Tier – ohne Bewußtsein seiner selbst. Im Akt des Ungehorsams gegen den Befehl Gottes, beziehungsweise in der Fähigkeit des Menschen, Nein zu sagen, wird der Mensch sich seiner selbst gewahr und macht den ersten Schritt in die Freiheit. Mit ihm wird zum ersten Mal menschliche Geschichte gesetzt. Die ursprüngliche Harmonie des Menschen mit der Natur ist zerbrochen. Der Mensch ist aus dem Paradies vertrieben und wird von zwei Engeln mit feurigen Schwertern daran gehindert, wieder zurückzukehren. Nach prophetisch-messianischer Auffassung ist die Geschichte in einem umfassenden Sinne Heilsgeschichte: Sie ist die Geschichte der Entfaltung des Menschen zu seiner Menschlichkeit, der Entfaltung seiner spezifisch menschlichen Eigenschaften der Vernunft und der Liebe. Wenn der Mensch sich ganz und voll entfaltet hat, dann findet er eine neue Harmonie, die Harmonie des entfalteten, vernünftigen, sich seines selbst bewußten, liebenden Individuums, das wieder eins mit der Welt wird und doch es selbst ist. Die neue Harmonie ist die alte Harmonie, aber auf einer neuen Stufe.“ [2]

Wir nehmen das Wort „Vernunft“ meist nur in den Mund, um zu begründen, dass das Ideal einer lebenswerten Umwelt, eines lebenswerten Lebens leider aus diesen und jenen Gründen jetzt und gerade nicht umsetzbar sei. Vernünftig meint in unserer von Verwertbarkeit geprägten Welt das, was gerade für Einzelne am meisten Geld bringt, egal was es die Gemeinschaft oder die Natur kostet. Vernunft meint aber etwas völlig anderes. Und: Die Ebene der Vernunft, wie sie von der Aufklärung gefordert wurde, haben bisher nur wenige Menschen wahrhaft erreicht. Das hat schon Johann Gottlieb Fichte im Jahre 1806 erkannt. In seinen berühmten Vorlesungen legte er dar, dass die Vernunft im Bewusstsein der Mehrheit der Menschheit noch nicht ausgebildet ist. Anders ausgedrückt sei die Entwicklung des Bewusstseins noch nicht bei der Vernunft angekommen, was bedeute, dass die Aufklärung mit den Idealen der westlichen humanistischen Idee noch vor uns liege. [4]

Wenn wir den Worten Carl Friedrich von Weizäcker von 1990 lauschen, können wir feststellen, dass sich das auch heute noch nicht wesentlich verändert hat:

„Ich wage die Behauptung: Unter den Aufgaben für Menschheit, Kulturkreis, Nationen, Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft ist keine, die nicht im Prinzip in gemeinsam betätigter Vernunft der Menschen gelöst werden könnte. Aber kaum taucht ein so ungeheurer Anspruch in unseren Gedanken auf, so erkennen wir: Die heutige Bewußtseinslage der Menschheit ist zu solch vernünftigem Handeln nicht imstande. Warum? Welcher Bewußtseinswandel wäre nötig? Ich weiß nur eine Antwort: Wahrnehmung der Vernunft bedarf eines tragenden Affektes, um zum entschlossenen Handeln zu führen. Für die Aufgaben der menschlichen Gemeinschaft weiß ich nur einen hinreichenden Namen für diesen Affekt, den alten Namen der Nächstenliebe. (…) Ist dieser Bewußtseinswandel in Gang? Oder wird er erst durch die Folgen unseres Versagens erzwungen werden?“ [5]

Das zeigt allerdings das ganze Dilemma auf. Nächstenliebe spüren wir erst dann, wenn wir uns selbst lieben können. Dies setzt Empathie voraus, die erst auf einer höheren Bewusstseinsebene wirksam wird. Empathie würde den Schrei der Natur hören; Empathie würde den Schrei der Kinder hören; Empathie würde ob des Krieges, den wir gegen uns und gegen die Natur mit aller Härte führen, zu einem solchen Entsetzen führen, dass wir stehen blieben und lauschten. Und nach neuen Wegen suchten.

Literaturverzeichnis

[1]K. Wilber, Halbzeit der Evolution – Der Mensch auf dem Weg vom animalischen zum kosmischen Bewußtsein. Eine interdisziplinäre Darstellung der Entwicklung des menschlichen Geistes, München : Goldmann-Verlag; 2. wiederveröffentlichte Auflage, 1991.
[2]E. Fromm, Humanismus als reale Utopie, München: Heyne Verlag, 1992.
[3]C. F. von Weizsäcker und G. Krishna, Yoga und die Evolution des Bewusstseins – Die wissenschaftliche Grundlage der spirituellen Erfahrung, Amerang: Crotona Verlag, 2010.
[4]J. G. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Berliner Ausgabe: Michael Holzinger, 2014 – 3. Auflage.
[5]C. F. Weizäcker, Bedingungen der Freiheit, München Wien: Carl Hanser Verlag, 1990.