Dipl.-Biol. Sigrun Mittl – holon-dialoge.de – Bremsnitz, Februar 2022
Mensch, Schimpanse und Maus sind sich genetisch unglaublich ähnlich
Unser nächster Verwandter, der Schimpanse, unterscheidet sich von unserem „eigenen“ Erbgut nur um 1,37 %, anders herum gesagt heißt das: der Mensch und der Schimpanse haben 98,63 % gleichartige Gene. (1) Ist das zu fassen? Da steigt doch fast zwangsläufig die Frage aus dem Nebel: „Was macht dann eigentlich den Menschen aus?“ Ich möchte Ihnen einfach mal den folgenden Gedanken mitgeben, auf dessen Beantwortung ich in diesem Essay aber nicht eingehen kann: „Die Werke Mozarts, Goethes „Faust“, Notre Dame, die Dichtung Rilkes – wie passen die in 1,37 % Genunterschied?“ Noch erschütternder wird es, wenn wir das Genom von Mensch und Maus vergleichen: an die 99 Prozent der Gene sind gleichartig. Die genetische Ähnlichkeit von Mensch und Maus, die beide über rund 30.000 proteincodierende Gene verfügen, ist doch verstörend. Nur etwa 300 der proteincodierenden Gene sind mensch- bzw. maus-spezifisch. (2) Mensch und Schimpanse ca. 98 % gleichartige Gene, Mensch und Maus 99 %. Wir wollen uns jetzt bei den leichten Ungereimtheiten nicht aufhalten, die der immens schwierigen Erhebung und Analyse der Daten geschuldet sind, aber uns wird deutlich, dass Mensch, Affe und Maus, die natürlich alle zu den Säugetieren gehören, genetisch sehr viele Ähnlichkeiten aufweisen. Angesichts der Tatsache, dass allerdings der Mensch im Gegensatz zum Affen und gar der Maus doch erheblich anders gestrickt ist und zu gigantisch anderen Leistungen fähig, stellt sich schon die Frage, ob die Gene wirklich für unser derart unterschiedliches Wesen verantwortlich sind oder ob es andere Faktoren sind, die den Unterschied ausmachen. Dazu in einem anderen Essay mehr.
Was wäre der Mensch ohne „seine“ Bakterien, Pilze und Viren?
Folgende Grafik veranschaulicht sehr gut, dass der Mensch mit allen Lebewesen auf dieser Erde eine lange gemeinsame Geschichte teilt. Aus der Analyse der Genome aller Arten, also der jeweiligen Genausstattung, ergab sich die Erkenntnis, dass sich aus dem Biofilm von Bakterien, Pilzen, Viren und anderen Mikroorganismen, der auf der Oberfläche der Erde vor Milliarden Jahren entstanden ist, im Laufe von Milliarden Jahren alle Pflanzen, Tiere und der Mensch (der ja auch zu den Tieren gehört) entwickelt haben. Die Forschergeneration um Prof. Meyer-Abich und später Prof. Margulis haben das wissenschaftlich schon im 20. Jahrhundert nachgewiesen. (3) (4) 94 % aller Gene in den Primaten (also auch dem Menschen) sind gleichartig mit den Genen der Bakterien, einzelligen Zellen mit Zellkern, der Tiere allgemein und der Säugetiere. Wir lesen aus der Grafik, dass 37 % der ∼23.000 (oder bis zu 30.000 Gene) menschlichen Gene auf bakterielle Vorfahren zurückgeführt werden können und weitere 28 % auf Vorfahren von einzelligen Eukaryonten. (5) Die Vorstellung, dass Bakterien und andere Mikroorganismen für den Menschen gefährlich wären, beruht auf der Fokussierung auf die wenigen, die unter bestimmten Umständen Krankheiten auslösen können. „Weniger als 200 Bakterienarten gelten dabei gemeinhin als ausschließlich krankheitserregend. Das heißt, die überwältigende Mehrheit, die Abermillionen von verschiedenen Bakterienarten waren lange vor unserer Zeit da und sind überwiegend gutartig.“ (6)

Abb. 1: “Die Abstammung des Menschen spiegelt sich in der genomischen Signatur wider. Eine phylogenetische Analyse der menschlichen Gene zeigt den relativen Anteil des Genoms, der in einer Reihe von Phasen der biologischen Evolution entstanden ist.“ (5) [Übersetzung durch mich]
Erklärung der Begriffe: (Phylogenese: stammesgeschichtliche Entwicklung aller Lebewesen) (Eukaryonten: Zellen, die einen echten Zellkern besitzen) (Animal: alle Tiere) (Vertebraten: Wirbeltiere) (Primaten: Der Mensch gehört mit den Halbaffen und den Echten Affen zu den heute lebenden Primaten) (Homolog: gleichartig) (Archaeen: kleine einzellige Mikroorganismen (Mikroben), die neben Bakterien und Eukaryonten eine der drei Domänen zellulärer Lebewesen bilden. Sie gehören neben den Bakterien zu den Prokaryoten, besitzen also keinen Zellkern)
Der Biologe Prof. Bosch forscht zusammen mit vielen Kolleginnen und Kollegen weltweit an der Rolle der Bakterien, Pilze und Viren für die Aufrechterhaltung der menschlichen Gesundheit. In seinem absolut empfehlenswerten Buch „Der Mensch als Holobiont“ legt er diese Forschungsergebnisse leicht verständlich dar und bringt uns dabei ins Staunen, wenn wir lesen, dass in unserem Körper mehr andere Gene zu finden sind als rein menschliche: „Ein erwachsener Mensch hat 3 x 1013 oder 30 Billionen Körperzellen. Dazu kommen nun aber 39 Billionen Bakterien, die in und auf uns leben. Unser Körper enthält damit etwas mehr Bakterienzellen als eigene Körperzellen. (…) Dazu kommt, dass die Gesamtheit der bakteriellen Gene etwa 100-mal größer ist als das menschliche Genom. (…) Alle diese verschiedenen Organismen, Bakterien, Viren und Wirtszellen verbinden sich zu „Meta-Organismen“. Das Zusammenleben in diesem wahrlich „multi-organismischen“ Verbund läuft im Verborgenen ab, gesteuert durch unsichtbare Signale. (…) Die Mikroben nutzen den tierischen oder pflanzlichen Körper als Lebensraum und kommunizieren nicht nur untereinander auf hochkomplexe Weise, sondern haben auch einen direkten Draht zu ihrem Wirt. Sie schützen uns vor Krankheiten, formen einige unserer Organe, wie zum Beispiel das Immunsystem, und steuern über die sogenannte Darm-Hirn-Achse vielleicht sogar einige Aspekte unsers Handelns.“ (6)
Diese revolutionäre Grundlagenforschung macht uns immer deutlicher, dass wir ohne die Billionen Bakterien, Viren und Pilze in unserem Körper gar nicht leben könnten. Sie und wir bilden eine einzigartige Symbiose zu unser beider Vorteil. Wir könnten auch ohne die Billionen Mikroorganismen nicht leben, die in der Natur unseren Boden aufbauen und den Pflanzen die Nährstoffe verfügbar machen. „Selbst in jedem Liter Meerwasser befinden sich eine Milliarde Bakterien und zehn Milliarden Viren.“ (6) Sogar der Regen entsteht in vielen Regionen der Erde mit Bakterien als Kristallisationskeimen. Die Bakterien steigen mit dem Wind und der Verdunstung vom Boden in die Atmosphäre, um dort als „Regenmacher“ zu fungieren. (7)
„Es gibt auf der Erde keine keimfreien Tiere. Wie Ed Young (2016) es kürzlich formulierte: „Geruch, Gesundheit, Verdauung, Entwicklung und dutzende anderer Eigenschaften, die wir dem `Individuum` zuschreiben, sind in Wahrheit das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen Wirt und Mikroben.““ (6) Die hoch aktuelle Forschung macht uns immer bewusster: ohne unsere Mikroben gäbe es uns erstens gar nicht und ohne unsere Mikroben würden wir auch keine zwei Tage überleben. Auch wenn der Zoologe Prof. Meyer-Abich eine Holobiose anders definiert hat (3) (8), so verwendet doch Prof. Bosch diesen Begriff auch für den Menschen, der seiner Ansicht nach ein Holobiont ist. Ich möchte das so formulieren: der menschliche Körper ist ein Holobiont. Der Mensch muss mehr sein. Dazu in einem anderen Essay mehr.
Literaturverzeichnis
1. Scally, A., Dutheil, J.Y. und … Durbin, R. Insights into hominid evolution from the gorilla genome sequence. Nature 483. 2012, S. 169–175.
2. Mouse Genome Sequencing Consortium. Initial sequencing and comparative analysis of the mouse genome. Nature 420. 2002, S. 520-562.
3. Meyer-Abich, Adolf. Naturphilosophie auf neuen Wegen. Stuttgart : Hippokrates-Verlag Marquardt & Cie. , 1948.
4. Margulis, Lynn. Der symbiontische Planet oder wie die Evolution wirklich verlief. Frankfurt/Main : Westend Verlag, 2017.
5. McFall-Ngai, M., et al. Animals in a bacterial world, a new imperative for the life sciences. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 110 (9). 2013, S. 3229-3236.
6. Bosch, Thomas C.G. Der Mensch als Holobiont. Kiel : Ludwig Verlag, 2017.
7. Jehne, Walter. Interview: Supporting the Soil Carbon Sponge. Interviewed by Tracy Frisch : https://www.ecofarmingdaily.com/supporting-the-soil-carbon-sponge/, 2019.
8. Meyer-Abich, Adolf. Organismen als Holismen. Acta Biotheoretica 11. 1955, S. 85-106.