Dipl.-Biol. Sigrun Mittl – Holon-Dialoge.de – Bremsnitz, Februar 2022

Einleitung

Wenn ich als Dip.-Biologin in diesem Essay das Wort „Ganzheitlich“ in den Mund nehme, werden Sie vielleicht als ersten Reflex beschließen, nicht weiterzulesen, da Sie annehmen, es werde jetzt wohl esoterisch oder spirituell. Das kann ich gut verstehen, da ich selbst während meines gesamten Studiums in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die drei Worte „Wissenschaft“, „Biologie“ und „Ganzheit“ nie zusammen in einem Satz gehört hatte.

Umso erstaunter war ich, als ich bei den Recherchen für meine Vorträge in älteren wie auch hoch aktuellen wissenschaftlichen Veröffentlichungen meines Fachbereiches Biologie über die Worte „Ganzheit“ oder „Holismus“ gestolpert bin. Das machte mich extrem neugierig. Ein ganz und gar neues Universum tat sich dabei auf und in dieses möchte ich Sie mitnehmen. Auch wenn dieser Forschungsgegenstand schon fast 100 Jahre auf dem Buckel hat, so ist er doch nie wirklich im heutigen Bewusstsein angekommen und das hat er nicht verdient. Genau genommen handelt es sich nicht um einen Forschungsbereich, sondern vielmehr um eine ganz zentrale Frage: sind wir und alle anderen Organismen samt unserer Umwelt mehr mit Maschinen zu vergleichen und bestehen nur aus Materie oder sind wir aktiv schöpferische Ganzheiten, die sich entwickeln? Je nachdem für welche Seite wir uns entscheiden, hat das dramatische Auswirkungen sowohl auf die gesamte Wissenschaft und Forschung wie auch auf die Art und Weise des Umgangs mit uns und unserer Umwelt. Und nicht nur das! Wir lassen den frischen Geist der Wissenschaft wehen und finden endlich neue Antworten oder spannende Hypothesen auf Fragen, für die wir noch immer keine Antworten haben – auch wenn wir das glauben. Zwei explosive Fragen als Einstieg: sind Gene wirklich ursächlich verantwortlich für die Erscheinungsform eines Organismus oder sind sie nur Werkzeuge. Verursacht das Gehirn das Bewusstsein, Gefühle und Gedanken oder ist es nur „Hardware“? Steigen wir ein und erfahren wir in einem ersten Schritt, worin die Unterschiede zwischen Einheit, Vielfalt und Ganzheit liegen. Die Antwort darauf ist zentral für das Leben schlechthin. Danach erschließen wir uns die Bedeutung der Worte Holismus, Holon und Holarchie und sehen uns Beispiele dafür an. Dies ist nur ein einführender Essay. Es bleibt weiteren vorbehalten, frischen Wind in alte Dogmen zu bringen.

„Ist die Natur eine Einheit, eine Vielheit oder eine Ganzheit?“ (1)

„Die Natur ist eine Ganzheit, also ein mächtiger lebender Weltorganismus! Diese Vorstellung von der Gesamtnatur paßt entschieden auch sehr viel besser zu den revolutionären Gedanken der modernen Astronomie und Kosmologie, als die mechanistische Idee vom Universum als einer gewaltigen rein mechanischen Übermaschine“, schrieb Adolf Meyer-Abich, Professor für Biologie und Philosophie 1948 in seinem berühmten Buch „Naturphilosophie auf neuen Wegen“. (1) Meyer-Abich versteht das Wort „Natur“ als Klammer für verschiedene Naturbereiche wie die physikalische Natur, die organische Natur und die seelische Natur und nicht für die Biosphäre allein. Er meinte wohl die gesamte Natur, die in Großbuchstaben, also NATUR. Wir werden sehen, dass auch die geistige Natur ein Naturbereich ist, wenn er diese auch in seine Überlegungen nicht einbezogen hat. Denken Sie sie einfach bei den folgenden Ausführungen immer mit, wenn Sie mögen.

Er schreibt: „Unser Thema, ob die Natur in ihrer Totalität eine Einheit, eine Vielheit oder eine Ganzheit bildet, gewinnt damit die Form einer Frage nach den wechselseitigen Beziehungen, in welchen die physische, die organische und psychische Natur zueinander stehen. Alle drei werden dann eine Einheit bilden, wenn sich zeigen läßt, daß sie nur verschiedene Erscheinungsformen einer ihnen gemeinsam und gleichförmig zugrundeliegenden Gesamtwirklichkeit sind, sie stellen jedoch eine Vielheit dar, wenn sich ergeben sollte, daß unsere drei Naturen absolut selbständige Wirklichkeiten bedeuten, die in keiner Weise durch Ableitungsbeziehungen miteinander verbunden sind, und sie repräsentieren endlich eine echte Ganzheit, wenn sie bei eingeräumter Unterschiedlichkeit sich gleichwohl ähnlich zueinander verhalten, wie die Organe innerhalb eines Organismus, wenn sie also Glieder einer ihnen übergeordneten Ganzheit sind“. (1)

Jetzt staunen wir schon mal nicht schlecht, wenn ein Professor der Biologie die Beziehung der Bereiche Physik, Biologie und Psychologie zueinander zum Gegenstand seiner Betrachtungen machte. So langsam ahnen wir, dass sich da völlig neue Bekanntschaften oder gar Freundschaften und feste Beziehungen auftun in Bereichen, die wir für absolut getrennt voneinander gehalten haben. Sie dürfen gespannt sein, wohin uns dieser Ausflug noch führt. Zuerst sei darauf verwiesen, dass ich alle folgenden Punkte nur kurz anreißen kann. Die ausführlichen Argumentationen finden Sie in den Büchern und Artikeln, die im Literaturverzeichnis aufgelistet sind.

Das mechanistische Modell des Lebendigen

Für das Argument der Einheit steht wie kein anderes die Theorie der reduktionistischen und mechanistischen Naturwissenschaft, die von so berühmten Gelehrten wie Descartes bis Helmholtz befürwortet wurde. Sie führten alle drei Naturbereiche auf den einfachsten von ihnen zurück, nämlich auf den der Mechanik, der Geometrie und der Materie. Biologie und Psychologie wurden als Teilbereiche der Physik und Chemie angesehen. Professor Driesch, Biologe und Philosoph, ist es zu verdanken, dass die Biologie den Klauen der Physik entrissen wurde und frei als eigenständige Wissenschaft atmen konnte. (2) Das Phänomen des Reduktionismus wird aber auch auf andere Wissenschaften angewandt. Der Mensch wird auf die reine Biologie zurückgeführt, die Psyche und sogar das Bewusstsein entspringen hier nur dem Gehirn. Professor C.G. Jung ist es zu verdanken, dass die Psychologie eine eigenständige Wissenschaft wurde. Seine Forschungen über die Ich-Werdung, die Entwicklung und Individuation des Menschen zu einem authentischen freien Menschen machen klar, dass der Mensch mehr ist als nur Materie oder gar ein biologisches Wesen. (3) Neben den immensen Erkenntnisfortschritten durch diese Idee und ihrer daraus abgeleiteten Methoden schlagen wir uns heute noch mit den Schattenseiten in Form der mechanistischen Medizin, mechanistischen Psychologie und einer mechanistischen oder materialistischen Naturauffassung herum, die die Lösung aller Probleme vor allem im Fortschritt der Technik, Chemie, Gentherapie oder Künstlicher Intelligenz sieht. Trotz aller Bemühungen ist diese Naturauffassung letztlich gescheitert. Wir stehen vor einer riesigen Herausforderung und die gesamte Wissenschaft ist sich einig, dass das Leben als Ganzes auf der Erde so gefährdet ist wie nie. Zudem kann dieses mechanistische Konzept viele Eigenarten und Eigenschaften des lebendigen Organismus nicht erklären. Machen wir uns also weiter auf die Suche.

Die Vielheit des Lebendigen – Ein Nebeneinander ohne Beziehung?

Als Antithese zum Mechanismus versteht sich der Pluralismus, in dem jede Wissenschaft gleichberechtigt neben den anderen steht und mit ihren je eigenen Erkenntnismitteln und Methoden erforscht wird. Diese Theorie hat ebenfalls viele Erkenntnisfortschritte zu verzeichnen, ignoriert allerdings den Gesamtzusammenhang der Naturbereiche. Eine „zusammenhanglose Vielheit von Naturen, die nichts voneinander wissen“ (1) ist nach Meyer-Abich das unbefriedigende Ergebnis. Aus eigener Erfahrung wissen wir ja alle, dass unsere Gesundheit sehr eng mit unserer inneren Zufriedenheit zusammenhängt; Körper und Psyche können also gar nicht nichts miteinander zu tun haben. Die Wissenschaft der Psychoneuroimmunologie beschäftigt sich genau mit diesen Zusammenhängen. Auch der Meinungspluralismus ist eine Folge dieser Weltauffassung. Jede Meinung ist gleich wahr, eine grundlegende Wahrheit als solche gibt es nicht mehr, sie wird beliebig. Hier werden wir also auch nicht fündig.

Das Prinzip der Ganzheit – Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Die Theorie, die die berechtigte Kritik an den beiden vorher beschriebenen Theorien ernst nimmt und zu beheben versucht, überträgt das für einen lebendigen Organismus herausgearbeitete Prinzip der Ganzheit auf die drei oder auch mehr Naturbereiche. Aus diesem Grund widmen wir uns an dieser Stelle zuerst diesem Prinzip der Ganzheit.

Irgendwann hat sich in unser Bewusstsein dieser berühmte Satz hineingeschlichen, dass „das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“. (4) Doch was heißt das genau, was bedeutet es und welche Auswirkungen hat diese Erkenntnis für die Wissenschaft? Wir können uns das an einem Vergleich deutlich machen. Wir nehmen die Teile eines Automotors auseinander und legen sie alle ordentlich auf den Boden. Wenn wir den Fehler gefunden und behoben und dann den Motor wieder zusammengebaut haben, lassen wir den Motor an und wenn wir Glück haben, schnurrt er wieder. Die Summe der Teile ergibt einen Automotor – eine funktionelle Einheit, aber nicht mehr. Wir können den Motor zwar wieder zusammenbauen, aber er war schon vorher tot und bleibt auch tot. Er ist und bleibt eine mechanische Maschine, die ihren Zweck erfüllt.

Stellen Sie sich jetzt vor, einen Menschen oder gar nur eine Pflanze auseinanderzunehmen. Das können wir tun, aber eines wissen wir dann sicher: nach diesem Prozess ist das Leben aus dem Organismus gewichen. Es ist dann tot und bleibt auch tot. Zusammenbauen führt hier nicht zu einem funktionsfähigen Organismus. Wir können ein Lebendiges nicht auseinanderbauen und wieder zusammenschrauben. Das zeigt sehr deutlich, dass im Falle eines lebendigen Organismus das Ganze mehr ist als seine einzelnen Teile. Aber warum? Ein wichtiger Hinweis liegt in einem der zentralen Bausteine des Organismus, der Zelle. Diese ist auch außerhalb des Organismus lebensfähig, wenn man sie zum Beispiel auf einem bestimmten Substrat in einer Petrischale kultiviert. Dieses „Teil“, die Zelle, unterscheidet sich fundamental von dem „Teil“ Schraube. Eine Schraube ist und bleibt tot. Die Zelle hingegen ist ein lebendiges Ganzes, das aus sich allein heraus lebensfähig ist UND ZUGLEICH ein Teil innerhalb eines umfassenderen Ganzen. Davon später mehr im Zusammenhang mit dem Begriff „Holon“.

Allerdings müssen wir auch feststellen, dass ein Stein oder ein Kristall zwar nicht im engeren Sinne lebendig scheint, aber trotzdem wohl ein Ganzes ist, das mehr als die Summe seiner Teile darstellt. Wenn wir alle Atome, die den Kristall ausmachen, auf einen Haufen legen, so wird daraus auch beim Schütteln kein Kristall. Die einzeln für sich wirkenden Elemente Wasserstoff und Sauerstoff verhalten sich völlig anders wenn sie sich zu Wasser H20 zusammenfinden. Welche Kräfte wirken in diesem Fall – Feldkräfte? Dazu an anderer Stelle mehr.

Die Bahn der Planeten können wir berechnen und beschreiben mit den Methoden der Physik und Mathematik. Aber mutet es nicht seltsam an, dass wir Lebendiges ausschließlich mit den Methoden der Physik, Chemie oder Mathematik untersuchen und uns umfassende, ja gar abschließende Erkenntnisse davon versprechen? Müsste man nicht annehmen, dass es für das Lebendige zusätzliche Methoden braucht, um es zu erklären? Was unterscheidet ein lebendiges Wesen von einer Maschine oder den einzelnen Elementen wie Eisen oder Wasserstoff? Was wirkt da? Gelten neben den Gesetzen der Physik und Chemie noch weitere – biologische oder gar psychische oder gar geistige Gesetze? Gibt es auf jeder Ebene eigene Gesetze? Wie könnten diese Ebenen oder Sphären (Biosphäre, Psychosphäre, etc.) zusammenhängen?

Der Unterschied zwischen Mechanismus und Organismus

Wir könnten schon mal eines festhalten: Mechanisches verdient den Begriff „Mechanismus“. Ein mechanisches System besteht auch aus Teilen, die äußerlich aufeinander bezogen sind. Aber es ist nicht mehr als die Summe seiner Teile, wie dies für Ganzheiten gilt. „Das Wesen eines mechanischen Systems ist reine Äußerlichkeit oder die Abwesenheit aller Innerlichkeit, aller inneren Tendenzen und Beziehungen und Aktivitäten des Systems oder seiner Teile. Alle Aktion in einem mechanischen System ist extern, (…).“ (5) Ohne Zufuhr eines Impulses oder einer Energie von außen bleibt der Mechanismus tot. Die mechanistische Sicht der Wissenschaft hat dazu geführt, dass allein diese äußere Aktion eines Mechanismus, die messbar und berechenbar ist, als objektiv gilt und diese Scheinobjektivität als Maß für wissenschaftliche Qualitätsstandards definiert wurde. Schöpferische Ganzheiten entziehen sich dieser mechanistischen Auffassung von Wissenschaft. Die Beschäftigung damit wird gemäß dieser Definition von Wissenschaft als subjektiv und nicht wissenschaftlich herabqualifiziert. Quantität, die messbar ist, ist der wissenschaftlichen Betrachtung würdig, Qualität und Beziehungen von Teilen einer Ganzheit nicht. Diese Sicht aber ist meiner Ansicht nach absolut unwissenschaftlich und wird dem Leben nicht gerecht.

Doch in welcher Form unterscheiden sich dann anorganische Strukturen wie Steine oder Atome und organische Organismen oder auch Sphären wie z.B. die Biosphäre oder die Psychosphäre von reinen Mechanismen? Es muss mit dem in allem rein Materiellen und im Lebendigen vorhandenen Drang, sich zu entwickeln, etwas Neues aus dem Alten zu schaffen, also im echten Sinne kreativ tätig zu sein, zu tun haben.

Weshalb finden wir überall im Universum Ordnung, Struktur und deshalb Ganzheit?

Wir sind es gewohnt, im Bereich der Evolution vom Zufall zu reden. Zufällige Mutation, zufällige Selektion, die nur durch die Umweltbedingungen ausgelöst wird, zufällige Schöpfung. Aber entspricht das wirklich der Wirklichkeit, die wir beobachten, wenn wir genau hinsehen? Ordnung und Struktur allüberall. Denken wir an die unglaubliche Ordnung eines Schneekristalls, einer Proteinstruktur, einer Zelle, eines Nervensystems oder dieses unglaublichen Wunderwerks des menschlichen Körpers. Welche schöpferische Kraft ist hier am Werk, die diese Ordnung schafft? Zufall kann das nicht sein. Smuts (s.u.) plädiert nach Sichtung der naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse für das Vorhandensein eines fundamentalen Faktors im Universum, der auf „Herstellung oder Erschaffung von Ganzheiten im Universum hinwirkt“, ein „operativer Faktor“, der gestaltend tätig ist, schöpferisch tätig ist, um immer komplexere Strukturen hervorzubringen, die natürliche Ganzheiten darstellen. (5) Diese immer komplexer werdenden Strukturen werden durch eine zentrale Steuerung aller Teile und Organe orchestriert, die auch immer komplexer wird – bis hin zum menschlichen Bewusstsein oder Unterbewusstsein, die den menschlichen Körper und die menschliche Psyche steuern. Für diesen fundamentalen Faktor im Universum, der die Evolution bedingt, erst möglich macht, schlägt er den Begriff „Holismus“ vor. Der Holismus ist „das ultimative Prinzip des Universums“. (5) „ Es ist eben nicht nur eine vage, unbestimmte Energie oder Tendenz in der Welt am Werke. (…) Und die fortschreitende Entwicklung der sich ergebenden Ganzheiten auf allen Stufen von den unvollkommensten, anorganischen Ganzheiten bis hin zu den am höchsten entwickelten und organisierten ist das, was wir Evolution nennen. (…) Diese universelle Tendenz, die ihre Wurzeln im Anorganischen hat, findet ihren deutlichen Ausdruck in der organisch-biologischen Welt und erreicht ihre höchsten Ausprägungen und Ergebnisse auf den mentalen und spirituellen Ebenen der Existenz.“ (5)

Holismus – Ein altes Erkenntnisideal gelangt zu neuer Blüte

Auch wenn das Werk eines bestimmter Mann, seines Zeichens Jurist, Philosoph und Staatsmann, aufgrund einer wohl unrühmlichen Rolle in der Apartheidspolitik Südafrikas in diesem Zusammenhang als Ursprungsquelle meist nicht genannt, aber häufig benutzt wird, so war es doch der Südafrikaner Jan Christiaan Smuts, der den Begriff „Holismus“ geprägt und damit ein neues und aus meiner Sicht epochales Ideengebäude in seinem 1926  veröffentlichten Buch „Holism and Evolution“ (6) anhand des naturwissenschaftlichen Wissens seiner Zeit ausformuliert hat. 1938 erschien das Buch in deutscher Sprache – „Die holistische Welt“, herausgegeben von Adolf Meyer-Abich (7) und dankenswerter Weise 2021 neu herausgegeben unter dem Titel „Holismus und Evolution“. (5) Wie wenn die Welt darauf gewartet hätte, wurden dieser Begriff und seine Inhalte von der wissenschaftlichen Welt bzw. von einem Teil der wissenschaftlichen Welt aufgenommen und bis heute fruchtbar weiterentwickelt. Endlich hatte man eine Theorie, mit der so Vieles erklärt und verstanden werden konnte. Das holistische Denken, wenn es auch erst seit Smuts so genannt wurde (vom griech. Adjektiv ólos = ganz] blickt auf eine lange Geschichte zurück, die von Heraklit über Aristoteles, Thomas von Aquin, Kepler, Leibnitz bis zu Schelling und C.E. von Baer reicht, bevor dann eine Reihe von heutigen Biologen wie PhD Sheldrake (8) (9), Prof. Bosch (10) oder Prof. Lynn Margulis (11)  diesen Begriff übernommen haben. Auch wenn Smuts Werk nicht mit dem von Dr. Rudolf Steiner zu vergleichen ist, so zeichnet es doch in brillianter Weise die Evolution des Organischen zum Geistigen ähnlich nach, nur dass es für Menschen geeignet ist, die keinen Gott oder keine geistigen Hierarchien akzeptieren mögen. Der Holismus verzichtet auf diese Kategorien und macht ihn für naturwissenschaftlich orientierte Menschen zur leichteren, aber ebenso gewinnbringenden und tief erfüllenden Kost.

„Es wird versucht zu zeigen, dass diese ganzheitsbildende oder holistische Tendenz in der Natur grundlegend ist, dass sie einen gut erkennbaren feststellbaren Charakter hat, und dass die Evolution nichts anderes ist als die allmähliche Entwicklung und Schichtung fortschreitender Serien von Ganzheiten ist, die sich von den anorganischen Anfängen bis zu den höchsten Ebenen der geistigen Schöpfung erstrecken.“ (6) [Übersetzung durch die Verfasserin]

Welche Aussage, die Smuts in seinem 1926 erschienenen Buch tätigte. Prof. Adolf Meyer-Abich sprach zusätzlich aus, was für viele Wissenschaftler auch heute noch undenkbar ist: „Alle mechanistischen und darwinistischen Entwicklungstheorien stimmen in der Behauptung überein, daß die höheren Organismen durch ein völlig planloses Spiel des Zufalls aus den niedrigeren Gestalten der Organismen entstanden seien. Wir werden später diesen Gedanken wieder aufnehmen und dann klar erkennen, daß nur bei der Annahme einer holistischen Grundstruktur der Welt höhere Ganzheiten aus niederen entstehen können. (…) Niemals kann man aus der Betrachtung von Teilen oder Teilwirkungen die Erscheinungen des Ganzen erklären, zu dem diese Teile gehören. Nur der umgekehrte Weg ist möglich: Ganzheit ist das Urphänomen, und was Teil und Teilwirkung ist, ist erst vom Ganzen her zu begreifen. (1) Meyer-Abich entwickelte daraus ein methodisches Prinzip, „mit dessen Hilfe man Ableitungsbeziehungen zwischen Ganzheiten verschiedener Organisationsstufen gewinnen kann. (…) An dieser Stelle sei nur noch so viel gesagt, daß nach diesem Prinzip [der holistischen Simplifikation] immer nur die niedrigeren Ganzheiten aus höheren abgeleitet werden können, daß dagegen jeder Versuch, das Ableitungsverfahren umzukehren, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. (…) Die Natur [gemeint im Sinne von NATUR; Anm.d.V.] ist weder eine Einheit noch eine Vielheit, sondern eine lebendige, organische Ganzheit.“ (1)

Welcher Sprengstoff in dieser wissenschaftlichen Feststellung liegt, ist meines Erachtens bis heute unerkannt. Dieses Schicksal teilt diese Erkenntnis mit der der Quantenphysik! Auch in dieser Disziplin wurde das Prinzip der Ganzheit eingeführt und zwar von keinem Geringeren als Max Planck. (1)

Ein kleiner Vorgeschmack zum sich Herantasten lieferte der schottische Mediziner und Physiologe John Scott Haldane: „Daß Biologie und Physik sich in irgendeiner Zeit einmal vereinigen werden, das erscheint wohl nicht zweifelhaft. Aber wir können zuversichtlich vorhersagen, daß, wenn dieser Moment eintritt und eine von beiden Wissenschaften von der anderen aufgesogen wird, diese ganz gewiß nicht die Biologie sein wird.“ (1) Er war zwar der Begründer des methodischen Holismus, der nachwies, dass aus dem Verhalten der einzelner Teile das jeweilige Ganze nicht vollständig erklärt werden kann, aber erst Smuts lieferte den Begriff „Holismus“ und formulierte das gesamte Ideengebäude aus. In einfachen Worten führt das zu folgender spektakulärer Erkenntnis: Aus der Biologie lässt sich die Physik ableiten und erklären, die Biologie aber niemals aus der Physik. Wenn wir das weiterspinnen, lässt sich die Biologie aus der Psychologie ableiten, aber niemals die Psychologie aus der Biologie – und die Psychologie lässt sich ableiten von der Wissenschaft des Verstandes und der Vernunft, wie immer man diese bezeichnen mag und diese wiederum aus der Geisteswissenschaft. Dieses Denken ist uns so fern, aber logisch weitergedacht bleibt nur dieser Schluss. Alles entwickelt sich, und zwar sehr geordnet und strebt zu immer größerer Ganzheit, Komplexität, Freiheit und Selbstbestimmtheit. Wir ahnen, was das in Bezug auf die Entwicklung des Menschen bedeuten mag. Davon in einem weiteren Essay mehr.

Doch sei schon auf die Originaldefinition des Begriffes „Holismus“ hingewiesen, die Smuts nicht nur für die Organismen, alle Pflanzen und Tiere allgemein, sondern auch speziell für die Persönlichkeit des Menschen der Welt geschenkt hat: „Holismus bedeutet nicht nur die Entwicklung des Universums nach holistischen Gesichtspunkten, die Verwirklichung immer vollkommenerer Ganzheiten (…). Er bedeutet auch die sich immer weiter ausbreitende Herrschaft der Freiheit, die Verwirklichung des Ideals der Freiheit im allmählichen Aufbrechen aller äußerer Fesseln und die allmählich zunehmende innere Selbstbestimmung des Universums durch die fortschreitende Entwicklung immer höherer holistischer Entitäten [Wesenheiten; etwas, das ist; ein Seiendes; Anm.d.V.] im Universum. (…) Wir können zusammenfassend sagen, dass der Holismus frei ist, und insofern sich der Holismus im Universum verwirklicht hat, insofern das Universum einen holistischen Charakter hat und aus holistischen Entitäten besteht, insofern sind das Universum und diese Entitäten selbst frei. Aber die Persönlichkeit [des Menschen; Anm.d.V.] ist der höchste Typ solcher holistischen Entitäten. Wir können daher sagen, dass die Persönlichkeit als Ganzes frei ist; je vollständiger sie den Charakter eines Ganzen verwirklicht, desto vollkommener wird auch ihre Freiheit als solche sein. Die Freiheit der Persönlichkeit ist einfach ihr Charakter der reinen, von äußeren Einflüssen unbeeinflussten Selbsttätigkeit, ihr Charakter der spontanen oder bewussten Selbstbestimmung, aufgrund dessen alle ihre Handlungen aus der reinen Quelle des Selbst fließen und ihr nicht durch nicht assimilierte äußere Bedingungen oder Ursachen, die ihr selbst fremd sind und die nicht in die Einheit mit sich selbst transformiert wurden, aufgezwungen werden. Die aufrichtige Selbstentfaltung im Menschen und in der Nation wird so zum wahren Ideal der menschlichen Entwicklung und Kultur. Freiheit ist also nicht nur ein abstraktes formales Konzept, sondern eine reale Aktivität; sie ist die Grenze, innerhalb derer der Holismus die individuelle Persönlichkeit formt und entwickelt. In dem Maße, wie die Persönlichkeit ganzheitlich ist, ist sie reich an den Merkmalen der Selbststeuerung und Selbstbestimmung; mit anderen Worten, sie ist frei.“ (5)

Holistische Biologie

„Im allgemeinen kann man m. E. sagen – und wir werden darauf später, wenn wir die holistische Biologie behandeln, zurückzukommen haben -, daß alles biologische Geschehen sich nur im Rahmen von einander übergeordneten Ganzheiten abspielt. Nur wenn wir die Beziehungen untersuchen, in denen organismische Subjekte als Ganzheiten und Glieder von solchen (Organen, Organverbände) zueinander stehen, treiben wir wirklich Biologie. Alle die zahllosen Erscheinungen und Vorgänge, die sich zwischen Zellorganellen, Zellen, Geweben, Organen, Organverbänden, ganzen Individuen und den übergeordneten Verbänden von Individuen abspielen, wobei jedes dieser Gebilde sowohl als Glied im übergeordneten Ganzen wie auch als Ganzheit den ihm selbst eingeordneten organismischen Subjekten gegenüber in die Erscheinung tritt, sind wirkliche biologische Phänomene und Prozesse. Ihre Aufhellung bildet den alleinigen Gegenstand der Biologie (…). (1)

Das heißt nicht, dass es nicht auch in jedem lebendigen Organismus mechanische Prozesse wie z.B. die Milchsäuregärung oder die Hebelwirkung der Knochen gibt, die rein physikalisch und chemisch zu erforschen und zu erklären sind. Diese physikalische Herangehensweise kann aber natürlich nicht auf den Organismus oder das Leben als Ganzes angewandt werden: „Es gelingt auf diese Weise nicht, das für das biologische Geschehen Wesentliche und Charakteristische unmittelbar zu erfassen, es gelingt aber wohl, alles dasjenige Geschehen im Organismus klarzustellen, welches bestimmt keine eigentlich biologische Bedeutung besitzt. (…) Wenn wir dann aber auch das eigentlich vitale Geschehen erfassen wollen, müssen wir uns anderer, und zwar rein biologischer Methoden bedienen.“ (1) Auf diesen Erkenntnissen aufbauend schlägt Meyer-Abich vor, Prozesse, die nicht rein physikalisch-chemisch ablaufen, sondern einen aktiven schöpferischen Dialog zwischen Gliedern und Ganzheiten darstellen, nicht mehr Mechanismus, sondern Holismus zu nennen. (4) Damit sind also nicht nur Systeme oder Organismen Holismen, sondern auch Prozesse.

Das Wesen und die Eigenschaften eines holistischen Erkenntnisideals, Systems oder Organismus

Zuerst einmal entwickelt Smuts eine zusammenhängende Theorie der Natur- und Geisteswissenschaften; mit dem Begriff „Holismus“ wird also ein Ideengebäude oder ein Erkenntnisideal bezeichnet.

Prof. Driesch hat mit seinen Seeigel-Experimenten eindeutig gezeigt, „daß auch die Ontogenese [Entwicklung des Individuums von der Eizelle zum geschlechtsreifen Zustand] keine planlose Mosaikentwicklung im Sinne von Roux darstellt, sondern ein von Anfang an planvoll und ganzheitlich geleitetes Geschehen.“ (1) Wir werden an anderer Stelle noch erfahren, dass die Gene dieses Geschehen nicht leiten, sondern dafür genutzt werden. Alle Organismen, von der Zelle bis zum Mensch, alle Systeme, von der Abiosphäre bis zur Geistessphäre streben nach Ganzheit, mehr noch, die Ganzheit ist schon in jedem lebendigen Wesen oder System angelegt. Sie streben zudem nach immer komplexeren Strukturen und passen sich an ihre jeweiligen Umgebungen an.

Für die holistische Biologie waren für Prof. Adolf Meyer-Abich „zwei auf das engste miteinander verbundene Leitgedanken wesentlich, nämlich der schon mehrfach genannte Gedanke der holistischen Simplifikation, den ich selber in die Naturphilosophie einführen durfte, und der uralte philosophische Gedanke einer Stufenfolge der Wirklichkeitsbereiche. Beide Gedanken hängen insofern miteinander zusammen, als das Vorhandensein einer Stufenfolge der Wirklichkeitsbereiche die Voraussetzung für jede Anwendung des Prinzips der holistischen Simplifikation bildete. Diese will nur das methodische Verfahren definieren, mit dessen Hilfe wir die verschiedenen Bereichsstufen miteinander in einen höheren, eben den holistischen Gesamtzusammenhang bringen können.“ (1)

Das Prinzip der Simplifikation sowie die Definition des Begriffs „Holon“

Die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche (Zelle, Organ, Abiosphäre, Biosphäre etc.) unterscheiden sich dadurch voneinander, „daß der jeweils komplexere Bereich durch mehr Dimensionen des Wirklichen charakterisiert ist als die ihm logisch vorhergehenden einfacher strukturierten Wirklichkeiten. (…) Wesentlich ist dabei die Erkenntnis, daß die Zunahme der Dimensionen keine nur quantitative Summierung darstellt. Es handelt sich vielmehr um eine qualitative Verwandlung und Hinaufstufung. (…) Dadurch, daß niedere Dimensionen in die Totalität höherer Dimensionen einbezogen werden, erleiden sie gleichzeitig eine qualitative Verwandlung von Grund auf. (…), so ist auch der Raum der Organismen sämtlichen physikalischen Räumen gegenüber qualitativ hinaufgestuft. Die qualitative Differenz dieser Räume ist so frappant, daß man in der Biologie ein völlig neues Wort benötigt, um diese verschiedenen Qualitäten gebührend zu bezeichnen. Die organismischen Räume nennen wir die Umwelten der Organismen, (…).“ (1)

Das bedeutet, dass die höhere Ganzheit die darunter liegende umfasst oder umarmt, was dazu führt, dass die darunter liegende Ganzheit ein Teil der darüber liegenden Ganzheit wird. An dieser Stelle möchte ich den Begriff „Holon“ einführen, den der Wissenschaftler Arthur Koestler geprägt hat: „Ein Teil, im üblichen Sinne des Wortes, ist etwas Fragmentarisches und Unvollständiges, das für sich allein keine Existenzberechtigung aufweist. Andererseits neigen die Ganzheitstheoretiker dazu, den Ausdruck „Ganzes“ oder „Gestalt“ für etwas in sich Vollständiges zu verwenden, das keiner weiteren Erklärung bedarf. Ganze und Teile in dieser absoluten Bedeutung existieren aber nicht, weder im Bereich der lebenden Organismen noch unter sozialen Organisationen. In Wirklichkeit finden wir auf mehreren Stufenebenen intermediäre Strukturen von zunehmendem Ordnungsgrad. Jede davon zeigt zwei Gesichter, die in entgegengesetzter Richtung schauen; das Gesicht, das den niedrigen Ebenen zugewandt ist, ist das eines autonomen Ganzen, das nach oben gerichtete ist das des abhängigen Teiles. Ich habe an anderer Stelle vorgeschlagen (12), für diese janusgesichtigen Teilganzen den Ausdruck „Holon“ zu verwenden – vom griechischen holos = ganz, mit dem Suffix –on (Neutron, Proton), das ein Teilchen oder einen Teil andeutet.“ (13)

Prof. Adolf Meyer-Abich weiter: “Hier setzt nun die holistische Theorie ein, indem sie den Nachweis führt, daß man zwar nicht die organismischen Dimensionen aus den physischen ableiten kann, (…) daß es jedoch sehr wohl möglich ist, vom organismischen Bereich her die physischen Bereiche zu erschließen, indem man den organismischen Dimensionenkomplex simplifiziert. Das holistische Ableitungsverfahren stellt somit eine radikale Umkehrung des mechanistischen dar. (…) Die theoretische Physik ist somit nach holistischer Auffassung in der theoretischen Biologie logisch potentiell enthalten, aber nicht umgekehrt. (…) Es ist eben nicht so, wie die Mechanisten glauben, daß das Organismische als Sonderfall im Physischen enthalten ist, vielmehr stellt genau umgekehrt das Physische nur ein vereinfachtes Wirklichkeitsmodell des Organismischen dar.“ (1)

Die Stufenfolge der Wirklichkeitsbereiche sowie die Definition des Begriffs „Holarchie“

„Wir erwähnten oben schon, daß in den Dimensionen eines jeweils komplexeren Wirklichkeitsbereiches die Dimensionen der einfacheren vorhergehenden Wirklichkeitsbereiche implicite enthalten sind, und zwar sind die höheren Dimensionen des Wirklichen keine bloßen Aufsummierungen der niederen, sondern deren qualitative Neuschöpfungen. (…) Die niederen und einfacheren Wirklichkeitsbereiche sind in den höheren enthalten und qualitativ aufgehoben, genau wie in einem lebendigen Organismus die Zellen in den Geweben enthalten und qualitativ aufgehoben sind und die Gewebe wieder in den Organen und diese im individuellen totalen Organismus. Die Natur als Ganzes ist kein blinder Haufen von zufällig beieinander befindlichen, sonst aber gegeneinander völlig kontingenten Naturen, sondern ein lebendiger Weltorganismus! Dessen Ordnung ist kosmisch, aber nicht als ein statisches Dasein wie die Ideen im Himmel Platons, sondern als eine ununterbrochene dynamische Entwicklung, eine dauernde Wandlung und Verwandlung. Das Dasein der Natur ist eine beständige Schöpfung, Harmonie von Leben und Sterben. Was wir physische Natur nennen, ist weiter nichts als die jeweils gestorbene organismische Natur!“ (1)

Die Stufenfolge erinnert sehr an das Symbol der biblischen Jakobs- oder Himmelsleiter, an das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse oder in Form von Kreisen an die Göttliche Komödie von Dante. Im Bereich der Soziologie und Entwicklungspsychologie erinnert es an die Stufen bei Graves (14), Gebser (15) (16), Wilber (17), Kohlberg (18), Maslow (19)  und Beck/Cowan (20) und im Bereich der Philosophie an die Stufen bei Steiner (21). Prof. Adolf Meyer-Abich fasst dieses Stufenbild auf folgende Weise zusammen: „Diese Betrachtungen zusammenfassend dürfen wir hier nun noch einmal feststellen, daß nach holistischer Auffassung das Verhältnis der Wirklichkeitsbereiche zueinander und zur Gesamtwirklichkeit dasjenige einer organismisch gegliederten Stufenfolge ist, derart, daß die jeweils einfachere Wirklichkeit in der jeweils komplexeren in qualitativer Verwandlung und Hinaufstufung synthetisch eingebaut und aufgehoben ist, so daß sie nur durch holistische Simplifikation aus ihr wieder entwickelt werden kann. Die Natur als Ganzes ist daher weder eine Einheit (mechanistischer Monismus) noch eine Vielheit (vitalistischer Pluralismus), sondern eine sich in ständiger aktiver Schöpfung erhaltende und entfaltende lebendige Ganzheit!“ (1)

Auch wenn sich das jetzt noch sehr ungewohnt anhört und vor allem eine Explosion von neuen Gedanken und Schlussfolgerungen oder eben das Gegenteil, eine absolute Abwehr, auslösen könnte, so beginnen wir doch einmal mit ganz einfachen Beispielen: Mein Verstand entscheidet, den Arm heben zu wollen – die Entscheidung einer umfassenderen Wirklichkeitsebene, der des Verstandes oder der Noosphäre führt zu einer inneren Beteiligung der unteren Ebenen, nämlich des Arms, der Muskeln in dem Arm, der Gewebe und die gewebebildenden Zellen. Umgekehrt ist das nicht möglich. „Eine Armzelle kann – als Ganzheit niederer Ordnung – keine Entscheidung über die Bewegung des ganzen Arms fällen – der Schwanz wedelt nicht mit dem Hund.“ (22) Eine schlimme Nachricht oder Angst vor einem Auftritt können zu Herzrasen oder Durchfall führen – die Psyche wirkt bis in den Körper hinunter.

Wilber, ein Pionier des integralen Denkens hat sich in seinem Buch „Eros, Kosmos, Logos“ sehr ausführlich mit den Auswirkungen des Holismus auf Wissenschaft und Spiritualität beschäftigt und hunderte Quellen dafür ausgewertet. Er schreibt: „Wenn sich im Verlauf irgendeiner Entwicklungs- oder Wachstumssequenz ein umfassenderes Stadium oder Holon herausbildet, schließt es die Fähigkeiten und Muster und Funktionen der vorausgehenden Stadien oder Holons ein und fügt dann seine ganz eigenen und umfassenderen Fähigkeiten dazu. In diesem und nur in diesem Sinn kann das neue Holon als „höher“ oder „tiefer“ bezeichnet werden. (…) Wie seit Hegel alle Entwicklungsdenker sagen, ist jedes Stadium in sich selbst angemessen und wertvoll, aber jedes tiefere oder höhere Stadium ist noch angemessener und in diesem Sinn wertvoller (und das heißt immer ganzheitlicher oder weniger eingeschränkt in den Reaktionsmöglichkeiten). Überlegungen dieser Art führten Koestler – nachdem er erkannt hatte, dass alle Hierarchien sich aus Holons zusammensetzen – zu dem Gedanken, daß man statt „Hierarchie“ lieber „Holarchie“ sagen sollte.“ (12) (22) In diesem Zusammenhang verwendet Wilber auch das Wort „Verwirklichungshierarchie“ und setzt diesem das Wort „Herrschaftshierarchie“ entgegen. Wir brauchen keine großen Worte, um den Unterschied für Mensch und alle anderen Organismen zu spüren.

Der Unterschied zwischen Kreislauf und Entwicklung

Aus all den bisherigen Ausführungen fällt es uns jetzt leichter, den Unterschied zwischen einem mechanischen Vorgang und einer kreativen Entwicklung zu verstehen. „Während die Wandlungen und Verwandlungen, von denen das Geschehen in der unorganischen Natur erfüllt ist, im wesentlichen den Charakter von universalen Kreisläufen haben, – man denke an die von der modernen Geochemie festgestellten Kreisläufe des Kohlenstoffs, des Sauerstoffs (…) – ist das Geschehen in der Welt der Organismen dadurch ausgezeichnet, daß wir es hier mit echten Entwicklungen zu tun haben. Während nämlich Kreisläufe im Endeffekt den Zustand wiederherstellen, von dem sie ausgegangen sind, ist das Ergebnis einer echten Entwicklung ein neuer Zustand, der dadurch ausgezeichnet ist, daß er seinem Ausgangszustand gegenüber eine organisatorisch höhere Leistung bedeutet. (…) Wichtig ist hierbei im Gedächtnis festzuhalten, daß Smuts ausdrücklich von organismischen Ganzheiten spricht. Das ist außerordentlich wesentlich, denn wie wir in der Folge noch immer klarer erkennen werden, sind nur lebendige, aktiv schöpferisch tätige Ganzheiten imstande, Entwicklungen im Sinne von organisatorischen Hinaufstufungen zu vollbringen.“ (1) Wie Organismen und auch der Mensch das zustande bringen, ist heute noch immer nicht wirklich verstanden.

Ich möchte an anderer Stelle ausführen, welche Konsequenzen eine solche Ideenwelt, die zugleich wissenschaftlich sehr gut abgesichert ist, sich daraus für die Evolution, die Entwicklung des Menschen und den Schutz der Natur ergeben. Dass alle Wirklichkeitsbereiche wie die Abiosphäre, Physiosphäre, die Biosphäre und die Psychosphäre, die Noosphäre und weitere miteinander in ständigem Austausch stehen müssen, liegt nach all diesen Ausführungen sehr nahe.

Symbiose, Holobiose und Holobiont

Aus dem Forschungsbereich der Entwicklungsbiologie stammt die Theorie der Holobiose. Die Fragestellung ist kurz gesagt folgende: aus welchen Urformen haben sich Pflanzen und Tiere entwickelt, also z.B. Farne, Bäume, Weichtiere, Säugetiere, etc.. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte man entdeckt, dass sich Arten verschiedener Reiche verbinden, eine Symbiose eingehen, um voneinander zu profitieren und den Lebensraum besser nutzen zu können. Ohne Symbiosen und Holobiosen ist eine biologische Entwicklung von unter anderem den ersten Bakterien bis zum Menschen gar nicht möglich, wie Untersuchungen gezeigt haben. Darauf gehe ich in einem anderen Artikel ein. Eine bekannte Symbiose sind die Flechten, die aus Algen und Pilzen gebildet werden. Eine zweite zentrale Symbiose stellt die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Mikrobiom (Lebensgemeinschaft aus Viren, Bakterien und Pilzen) dar, das sich u.a. im Darm und auf der Haut befindet. Wenn zwei Partner über die Symbiose hinaus zu neuen auch morphologisch in sich ganzheitlich geschlossenen Gebilden zusammengewachsen sind und durch autonome Teilung aus ihresgleichen hervorgehen können, werden sie als Holobiosen bezeichnet. „Holobiosen entstehen also aus Symbiosen dann, wenn die Symbionten ihre Selbständigkeit verloren haben und Organe eines neuen übergeordneten Ganzen geworden sind, wenn kurz gesagt aus Symbionten Holobionten geworden sind.“ (1)

Prof. Adolf Meyer-Abich beschreibt die Theorie der Holobiose in kurzen Worten: „Kurz gesagt behauptet die Theorie der Holobiose also, daß alle höheren und komplizierteren Organismen durch biontische Prozesse, also durch Parabiosen, Antibiosen, Symbiosen und schließlich durch Holobiosen aus einfacheren und niedrigeren Organismusformen hervorgegangen sind. Das bedeutet also anders ausgedrückt, daß die Organe und Organverbände der höheren Organismen ursprünglich einmal aus früher selbständigen Organismen entstanden sind. Diese Organismen wurden aus selbständigen Wesen zunächst zu Symbionten und schließlich zu Holobionten und endlich zu echten Organen.“ (1) Ihm ist es zudem außerordentlich wichtig, „hervorzuheben, daß organisatorische Hinaufstufungen von niederen Formen zu höheren nur durch lebendige Ganzheiten bewirkt werden können, weil diese allein die dafür erforderliche schöpferische Aktivität besitzen.“ (1)

Prof. Bosch bezeichnet in seinem 2017 veröffentlichten Buch „Der Mensch als Holobiont“ alle Lebewesen als Holobionten und definiert den Begriff wie folgt: „Alle tierischen und pflanzlichen Organismen sind, biologisch gesehen, keine Individuen, sondern bilden mit kolonisierenden Bakterien eine Einheit, einen sogenannten „Holobiont“. Der Begriff setzt sich zusammen aus den griechischen Wortstämmen „holos“ (= ganz) und „bios“ (= Leben) zusammen und bezeichnet damit etwas unscharf eine Art Lebensgemeinschaft.“ (10)

Der Mensch als die Krone der Schöpfung – richtig verstanden

Im Mensch zeigt sich die Stufenentwicklung am allerdeutlichsten. Die Entwicklung des Menschen beginnt auf der körperlichen Ebene, der Physiosphäre, mit der Eizelle und der Samenzelle. Über die Mehrzelligkeit zu Gewebeverbänden zu Organen zu Organverbänden usw., bis der körperliche Mensch aufgebaut ist, der in seiner Umwelt, der Biosphäre lebt, und sich weiter entwickelt in die Psychosphäre hinein mit all den Empfindungen, dann in die Noosphäre, die Verstandesebene, in die Sphäre der Bewusstseinsseele und endlich in die Sphäre des Geistes. Das Ich und das Bewusstsein sind in allen diesen Sphären anwesend, wenn auch in unterschiedlichen Organisationsgraden. Das Wort „Geist“ ist noch ungewohnt, wir bringen es nicht mit uns persönlich in Verbindung; aber wir sprechen ganz vertraut von Geistesgrößen wie dem Physiker Hawking, den Komponisten Bach, Beethoven, Mozart und Wagner, den Dichtern Rilke und Novalis oder vom Zeitgeist und der Geistesgeschichte einer Kulturnation oder -epoche;  oder wir fühlen uns von allen guten Geistern verlassen. Der Mensch als Krone der Schöpfung in dem Sinn, dass im Organismus Mensch die meisten Stufen angelegt und auch von manchen großen Geistern schon erklommen und verwirklicht wurden, in dem Sinn, dass er aufgerufen ist oder sich aufgerufen fühlt, sich in immer harmonischere und friedlichere Ebenen hinauf zu entwickeln, manche würden sagen, Gott ebenbürtig zu werden oder Erleuchtung zu finden.

Um noch einmal Smuts zu zitieren: „Es wird versucht zu zeigen, dass diese ganzheitsbildende oder holistische Tendenz in der Natur grundlegend ist, dass sie einen gut erkennbaren feststellbaren Charakter hat, und dass die Evolution nichts anderes ist als die allmähliche Entwicklung und Schichtung fortschreitender Serien von Ganzheiten ist, die sich von den anorganischen Anfängen bis zu den höchsten Ebenen der geistigen Schöpfung erstrecken.“ (6) [Übersetzung durch die Verfasserin]

Der andalusische Philosoph und Mystiker Ibn al-Arabi hat im 13. Jahrhundert die Idee der Stufenentwicklung in vier berühmte Sätze gekleidet:

Gott schläft im Felsen,

träumt in der Pflanze,

rührt sich im Tier und

erwacht im Menschen. (23)

Literaturverzeichnis

1. Meyer-Abich, Adolf. Naturphilosophie auf neuen Wegen. Stuttgart : Hippokrates-Verlag Marquardt & Cie. , 1948.

2. —. Hans Driesch, der Begründer der theoretischen Biologie. Zeitschrift für philosophische Forschung 1 (2/3). 1947, S. 356-369.

3. Jung, C.G. Erinnerungen, Träume, Gedanken. Düsseldorf : Patmos Verlag, 2009 – 16. Auflage.

4. Meyer-Abich, Adolf. Organismen als Holismen. Acta Biotheoretica 11. 1955, S. 85-106.

5. Smuts, Jan Christiaan. Holismus und Evolution. Luxemburg : Amazon Media, 2021.

6. —. Holism and Evolution. New York : The Macmillan Company, 1926 – 1. Auflage.

7. —. Die holistische Welt. Berlin : Alfred Metzner Verlag, 1938.

8. Sheldrake, Rupert. Das schöpferische Universum. Frankfurt/M, Berlin : Ullstein Verlag, 1996 – 2. Auflage.

9. —. Das Gedächtnis der Natur – Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur. Bern, München, Wien : Scherz Verlag, 1991 – 4. Auflage.

10. Bosch, Thomas C.G. Der Mensch als Holobiont. Kiel : Ludwig Verlag, 2017.

11. Margulis, Lynn. Der symbiontische Planet oder wie die Evolution wirklich verlief. Frankfurt/Main : Westend Verlag, 2017.

12. Koestler, Arthur. Das Gespenst in der Maschine. Wien : Molden Verlag, 1967.

13. Koestler, Arthur & Smythies, J.R. (Hrsg.). Das neue Menschenbild – Die Revolutionierung der Wissenschaften vom Leben (Originaltitel: Beyond Reductionism). Wien-München-Zürich : Verlag Fritz Molden, 1970.

14. Graves, Clare W. Levels of Existence: An Open Systems Theory of Values. Journal of Humanistic Psychology Vol. 10 No.2. 1970, S. 131-155.

15. Gebser, Jean. Ursprung und Gegenwart – Erster Teil – 5. Auflage. Neukirchen : Novalis Verlag, 2010.

16. —. Ursprung und Gegenwart – Zweiter Teil – 2. Auflage. Neukirchen : Novalis Verlag, 1999.

17. Wilber, Ken. Spektrum des Bewusstseins – Eine Synthese östlicher und westlicher Psychologie. Hamburg : Rowohlt Verlag, 1991 – 6. Auflage.

18. Kohlberg, Lawrence. Die Psychologie der Moralentwicklung. Berlin : Suhrkamp Verlag , 1996.

19. Maslow, Abraham H. Motivation und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt Verlag, 1981.

20. Beck, Don Edward und Cowan, Christopher C. Spiral Dynamics – 6. Auflage. Bielefeld : Kamphausen Verlag, 2015.

21. Steiner, Rudolf. Theosophie. Dornach : Rudolf Steiner Verlag, 2005.

22. Wilber, Ken. Eros, Kosmos, Logos. Frankfurt am Main : Fischer Verlag, 2001.

23. al-Arabi, Ibn. azquotes.com. [Online] [Zitat vom: 8. September 2021.] https://www.azquotes.com/author/22991-Ibn_Arabi.