Ein Essay im Werden – Dipl.-Biol. Sigrun Mittl – holon-dialoge.de – September 2018

Der Klappentext des absolut empfehlenswerten Buches von Arno Gruen „Der Wahnsinn der Normalität“, das im Jahr 1987 erschienen ist, führt in das Thema des Buches ein: „Wie kommt es eigentlich, daß ganz „normale“ Menschen so viel Destruktivität produzieren: Umweltzerstörung, fortschreitende militärische Aufrüstung, Atomwaffen, Kriege? Der Psychoanalytiker Arno Gruen sieht die Entwicklung zum Zerstörerischen und Bösen als eine Folge des Selbsthasses. Während Sigmund Freud das Destruktive des Menschen in einem angeborenen Todestrieb sieht, ist für Gruen das zerstörerische und tödliche Handeln in dem Verrat begründet, den der Mensch an sich selbst begangen hat. Wenn ein Kind schon früh gelernt hat, daß es geliebt wird, wenn es sich dem Willen der Eltern unterwirft, so ist es nicht mehr fähig, in sich selbst zu wurzeln. Der Zugang zu seinem eigenen Selbst ist ihm versperrt. Leid und Schmerz werden dann als Schwäche abgetan, satt ihre Bedeutung als menschliche Reaktion anzuerkennen. Macht dagegen wird zum Weg, die Gefühle von Hilflosigkeit zu überwinden. Eine schwer faßbare und gefährliche Pathologie: Während jene als „verrückt“ gelten, die den Verlust der menschlichen Werte in der realen Welt nicht mehr ertragen, wird denen „Normalität“ bescheinigt, die sich von ihren menschlichen Wurzeln getrennt haben. Je mehr ein Mensch jedoch den Zugang nach innen verloren hat und von außen gelenkt wird, desto mehr wird er nach Macht streben. Dieser versteckte Wahnsinn ist es, der die Menschheit mehr denn je bedroht, denn nie war das zerstörerische Potential in den Händen der Machthungrigen größer als heute.“ [1]

Der Psychiater und Psychoanalytiker Dr. Arno Gruen flüchtete im Alter von 13 Jahren zusammen mit seinen Eltern aus Nazi-Deutschland in die USA. Zeit seines Lebens beschäftigte ihn die folgende Frage: Was muss in der Kindheit eines Menschen geschehen sein, dass er zu grausamen Handlungen gegenüber anderen Menschen fähig wird und Autoritäten blind gehorcht und vertraut. Alle seine Bücher drehen sich um diesen Themenkomplex und bieten sehr plausible Erklärungshypothesen an, die er im Rahmen seiner jahrzehntelangen therapeutischen Praxis entwickelt hat. Er fasst sie mit folgenden Worten zusammen:

„Im ersten Kapitel gehe ich der Frage der Verantwortung nach und stelle ihr das gegenüber, was gewöhnlich als ihr Maßstab gilt: Pflicht und Gehorsam. Davon ausgehend, komme ich zu einer Charakterisierung von Wahnsinn, die von der offiziellen Psychologie und Psychiatrie abweicht. Deren Betrachtungsweise beschränkt sich darauf, menschliches Verhalten ausschließlich vom Grad des Realitätsbezugs her zu beurteilen, was selbstverständlich seine Berechtigung hat. Nur verhindert sie damit die Annäherung an eine schwerer faßbare und gefährlichere Pathologie, zu deren eigener Methode das Verbergen gehört: der Wahnsinn, der sich selbst überspielt und sich mit geistiger Gesundheit maskiert. Er hat es nicht schwer, sich zu verbergen, in einer Welt, in der Täuschung und List realitätsgerecht sind. Während jene als „verrückt“ gelten, die den Verlust der menschlichen Werte in der realen Welt nicht mehr ertragen, wird denen „Normalität“ bescheinigt, die sich von ihren menschlichen Wurzeln getrennt haben. Und diese sind es, denen wir die Macht anvertrauen und die wir über unser Leben und unsere Zukunft entscheiden lassen. Wir glauben, daß sie den richtigen Zugang zur Realität haben und mit ihr umgehen können. Aber der „Realitätsbezug“ eines Menschen ist nicht der einzige Maßstab, um seine geistige Krankheit oder Gesundheit festzustellen, sondern man muß auch fragen, inwieweit menschliche Gefühle wie Verzweiflung, menschliche Wahrnehmungen wie Empathie und menschliches Erleben wie Begeisterung möglich oder eliminiert sind. (…) Ich ziehe für diesen Zusammenhang Beispiele aus dem Dritten Reich heran, nicht weil die Nazis Deutsche waren, sondern weil der deutsche Faschismus besonders klar Vorgänge beleuchtet, die es überall dort gibt, wo Menschen von ihrem Inneren abgetrennt sind. Mit dem Ende des Dritten Reiches wurden seine Voraussetzungen keineswegs abgeschafft. Noch immer wird statt menschlicher Substanz das äußere Erscheinungsbild gefördert, wird Anpassung statt innerer Unabhängigkeit belohnt. Heute geben sich dies Voraussetzungen mehr denn je den Schein von „Humanität“ und „Menschenfreundlichkeit“. Das Schreckliche versteckt sich immer öfter hinter lächelnden Mienen und kommt als Freundlichkeit scheinbar rücksichtsvollen Verhaltens daher. Daher ist es schwieriger geworden, die tatsächliche Krankheit unserer Zeit zu erkennen.“ [1]

Literaturverzeichnis

[1]A. Gruen, Der Wahnsinn der Normalität – Realismus als Krankheit, München : Kösel Verlag, 1987.

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