In welcher Weise hängen Verstand (Noosphäre) und Vernunft (Syneidesisphäre) zusammen – in welcher Hinsicht unterscheiden sie sich?

Ein Essay im Entstehen – Sigrun Mittl – holon-dialoge.de – Januar 2022

Ich weiß noch nicht, ob das griechische Wort `Syneidesis` in seiner tiefen Bedeutung dem Wort `Vernunft` entspricht und das Wort `Vernunft` mit dem Wort `Gewissen`zu tun hat. Ich werde mich damit beschäftigen. Bis dahin möchte ich es einfach schon mal einführen.

Zur Einstimmung auf diesen Text möchte ich Dr. Eugen Drewermann zitieren und zwar einen Abschnitt aus seiner Neujahrsansprache 2022, die er auf Einladung der Gesellschaft für Gesundheitsberatung e.V. gehalten hat und die auf youtube zu sehen ist. (1)

Er sagt: „Zur Wissenschaft gehört die Liebe zur Wahrheit, nichts weiter, ohne Kompromisse, ohne Fälschungen, erkauft mit persönlicher Wahrhaftigkeit. (…) Paradoxerweise entspricht sie [die Medizin] nicht dem, was wir mit `Vernunft` bezeichnen wollten. Immanuel Kant, vor 200 Jahren, hat den Unterschied sehr prägnant formuliert: Verstand ist etwas anderes als Vernunft. Mit dem Verstand versuchen wir, die kausalen Mechanismen der Naturvorgänge zu erklären. In gerade angegebener Weise ist der Verstand das Mittel, empirische Erfahrungen unter die Einheit des Bewusstseins zu bringen, aber es ist nicht Vernunft. Was wir in der Natur sehen, hat in gewissem Sinn keinen Sinn, es läuft ab. Aber es gibt uns keinerlei Information darüber, wofür es da wäre, was für einen Wert es haben sollte, was sich menschlich damit verbindet. Uns könnte das als theoretisches Problem scheinen, wozu brauchen wir auch Vernunft, wieso müssen wir Vernunft und Verstand voneinander abgrenzen. Unter Vernunft verstand Immanuel Kant, dass es bestimmte Ideen gibt, die unverzichtbar sind, den Verstand zu seiner Vollständigkeit anzuleiten. Der Verstand wird nie imstande sein, diese Ideen zu Erkenntnisobjekten zu machen, aber er braucht sie. Er muss bei Vernunft gehalten werden, um sich als Verstand vollziehen zu können. Die Vernunftideen waren für Immanuel Kant die Existenz Gottes, die Existenz der Seele und ihrer Unsterblichkeit und die Existenz der Freiheit. Ich muss nicht lange begründen, wie diese Postulate der Kritischen Vernunft bei Kant zustande kamen.“

Der Verstand ist ein Werkzeug des Menschen, geschaffen, um sich Sachverhalte zu erarbeiten, das Leben in seinem praktischen Vollzug zu planen und zu gestalten, aber er ist ohne Bezug zu einem Sinn. Der Verstand ist ein Holon, ein Ganzes in sich, und ein Teil eines umfassenderen Bewusstseins. Die Heimat des Verstandes ist die Noosphäre (2), eine in sich vollständige Ebene des Bewusstseins, die aber in einem bestimmten Bezug steht zu der Ebene „unter“ ihr, der Psychosphäre (2) und der Ebene „über“ ihr, der Sphäre des Gewissens und der Vernunft. Zumindest sollte sie es. Die Auswirkungen des Umstandes, dass sie es häufig nicht ist, werden wir später genauer beleuchten. Der Begriff `Denken` wird häufig der Noosphäre zugeordnet; Denken ist meiner Ansicht nach eine noch viel umfassendere Tätigkeit als das nur verstandesmäßige Denken, das von dem früheren Präsident der Bank of India und indischen Heiligen Ramesh Balsekar (4) als der „arbeitende Verstand“ bezeichnet wird. Ich möchte daher eine bestimmte Form des Denkens auf einer anderen Ebene einordnen. Dazu später mehr.

Den Sinn findet der Mensch erst in einem übergeordneten Bezugsrahmen, auf einer höheren Ebene, von der aus der Mensch das Verstandene einordnet, ihm Sinn verleiht, vielleicht sogar Schlüsse für sein Leben daraus zieht oder sein Weltbild entwirft. Diese Ebene des Bewusstseins, die der Mensch sich erst erschließen muss, und in der unter anderem die Vernunft zu Hause ist, möchte ich Syneidesisphäre nennen.

Demnächst geht es weiter…

Literaturverzeichnis

1. Drewermann, Eugen. Neujahrsansprache 2022 – Aufeinander zugehen in Zeiten der Spaltung. [youtube] Lahnstein auf der Höhe : Gesellschaft für Gesundheitsberatung GGB e.V., 2022.

2. de Chardin, Theilhard Pierre. Der Mensch im Kosmos. München : Verlag C.H.Beck, 1959. Beck´sche Sonderausgaben 1981.

3. Meyer-Abich, Adolf. Probleme der Psychosphäre. Zeitschrift für philosophische Forschung Vol. 17_Iss. 3. 07-09 1963, S. 503-522.

4. Balsekar, Ramesh S. Erleuchtende Gespräche. Freiburg i. Br. : Verlag Alf Lüchow, 1994.